, Dominique Erni, Skipper poco loco

Geschichte einer speziellen Nacht 2022

 

Geschichte über eine spezielle Nacht

Dominique Erni

Mehr als vier Stunden sind vergangen nach dem Start. Die Nacht entsprach dem lebendig gewordenen Traum eines jeden Romantikers, Vollmond, laue Temperatur, Sternschnuppen in Fülle. Leider gingen alle unsere Wünsche bei jeder Sternschnuppe, immer die gleichen, ins Leere und es wurden die andern erhört. Diejenigen, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort standen, im Gegensatz zu uns, die unaufhörlich feststellen mussten, dass der Zug auf dem andern Perron abfuhr, mal für mal. Auch der schmerzliche Blick auf die App bestätigte, was wir eigentlich wussten, aber ungern wahrhaben wollten: wir sind letzte, und die andern weit, weit weg.

Der Renneifer wich einer angespannten Lethargie, fernab von dem berauschenden Glücksgefühl, das jeden aufboostern würde, der das Privileg hat, sich mitten im See an diesem Ort der Kraft aufhalten zu dürfen. Statt des Strebens nach höher, schneller, weiter würde jede normal konfigurierte Psyche die Seele baumeln, sich in die Leere des Universums fallen lassen wie die unzähligen Sternschnuppen und sich dabei mit der Kraft aufsaugen, welcher dieser Ort zu dieser Zeit ausstrahlte. Wir hingegen spürten viel mehr den Fatalismus, dem sich der Mensch wehrlos zu beugen hat, wenn er sich den Gegebenheiten der Natur aussetzt, ohne die in diesem Moment zynisch erscheinende Wahrheit aus den Augen zu verlieren, dass nach jedem Regen irgendwann wieder die Sonne scheint, und nach jeder Flaute der Wind aufkommt. Dass ist gewiss, aber nur das wann hilft. Es geht um das Ertragen der Lebensumstände, so krud wie sie sind, im Wissen, dass es mehr schadet als nützt bei den Bemühungen, die uns sonst am Leben erhalten, nämlich sich mit Wille und Aktivismus dem Schicksal entgegenzustemmen und sein eigenes Leben an die Hand zu nehmen. Es geht um die Demut des Seglers, mit dem hämischen Grinsen des Allmächtigen im Nacken bei seinen dilettantischen Versuchen, die von jenem auferlegte Flaute zu überwinden statt sich dabei hineinzuschicken, sein Weiterkommen der Laune des Allmächtigen zu überlassen. Und trotz alledem lebt der archaische Instinkt in uns weiter, entstanden aus der Spannung zwischen dem Fressen und Gefressen werden, im zivilisierten Racer heruntergebrochen auf die Regatta. Dieser spielerisch ausgelebte Urtrieb ist es letztendlich, der uns in diese Situation gebracht hat mit der Vision, bei diesem Spiel Spass zu empfinden.

Aber dann, Mitternacht war vorbei, beim Scannen des Ufers, fiel ein Licht auf, das so gar nicht in die Konturen der Uferlandschaft passen wollte. Und ja, auch beim zweiten Blick traf dies zu, und beim dritten sah man, dass es sich langsam bewegte. Die Bewegung war kaum wahrzunehmen, aber trotz der Zweifel aufgrund der Lethargie war sie nicht zu ignorieren. Und sofort waren die Sinne wieder geschärft, die Nüstern wurden hochgezogen wie beim Schnüffeln des Wolfes nach dem letzten Lebendigen, das es noch zu ergattern gibt in der Einöde. Und es ging wieder los, der Fokus wieder angezogen von den Segeln und den Anzeigen auf den Instrumenten, die begannen, wieder eine ganze Zahl vor dem Komma anzugeben. Automatisch wich das Hadern mit dem Skipper dem Gefühl, Teil einer Mission zu sein, um gemeinsam etwas zu reissen. Es war zu nah ans Land gefahren, das arme Tier, und langsam aber sicher schoben wir uns an ihm vorbei, mal es wieder ein Schub, mal wir wieder einen. Nebeneinander krochen wir durch die beiden Nasen ins Weggiser Becken, er mehr nach links, wir mehr nach rechts, ja nicht in den dunklen Schatten des Bürgenstocks. Und ja, das sollte sich bewähren, aber mit der Zeit ging auf diesem See wieder jede Windstruktur verloren, und wir fanden uns beide wieder im selben Windloch, oder besser in einem Syphon, aus dem man nicht klettern kann, sondern in welchem, einmal dort gelandet, man gnädig darauf warten muss, bis einer da oben die Spülung drückt, und in welchen einer nach dem andern auch die andern fallen und sich dort scharen, Minuten, Viertelstunden, Stunden. Diese Syphons machen uns glaubhaft, dass die Erde doch eine Scheibe ist und uns eine Schwerkraft in eine öde Pfütze zieht, wenn man über die Kante gerät, genau so, wie es die alten Seefahrer erzählten, die einzigen, die es wirklich wissen konnten, wie es da draussen aussieht. Dort, in dieser Pfütze, fanden sie sich schpn damals alle wieder, die verpeilten Boote, in fehlerhafter Absicht oder weil es keinen Umweg gab, ohne Aussicht auf eine Alternative, am Tellerrand abgerutscht in die Flaute, Stunden, Tage, Wochen. Und keiner, der oben spülte.

Und auch da begann sich wieder etwas zu regen. Kurz vor Kehrsiten kam sie daher, gespenstisch, die Armada der Führenden mit den kleinen grünen und roten Lichtern. Langsam und lautlos schmierten sie uns entgegen über das ölige Wasser, diese Geisterboote. Julian kreuzte uns als erster. Im schalen Vollmondlicht erschien sein Gesicht wie ein Sphinx, starr und wächsern, die Gesichtszüge scharf gezeichnet, wie in trance, Blick und Hand eins mit den kleinen Fäden am Vorderliek. Ganz am Ende der Gruppe, etwas abgehängt, kreuzten wir den wild turkey, ganz nah und langsam. Wir hatten reichlich Zeit für ein paar Wortwechsel, besoffen wie an der Fasnacht, unter dem Einfluss unseres sinnentleerten Dahintreibens. Wir liessen es uns nicht nehmen, ein paar gute Wünsche zu richten an den turkey, dass Gott sich seiner erbarme und ihn fliegen lasse, insgeheim nicht ohne das kleine Flehen, dass sich die Wünsche auch bei uns verwirklichen würden. Als wir schliesslich um die Ecke kamen, war auch der knackige Stansstader Obigblos zu einem verkaterten after hour Hauch verkommen. Wie dem auch sei, dank ein paar günstigen Winddrehern gelang es uns, ein stattliches Stück Wasser zwischen uns und unsern letzten Gegner zu legen. Die Boje gerundet, Stansstad auf Vorwind hinter uns gelassen, glitten wir also dahin, mitten im See vor Weggis, als wir ihn hinter uns um Kehrsiten schleichen sahen. Wir standen nicht still, aber so kam es uns vor, als wir ihn an uns vorbeirauschen sahen eng entlang des Bürgenstocks, ohne die geringste Chance, dorthin zu gelangen. Immerhin, sagten wir uns, wir haben es ihm wirklich mal gezeigt bei gleichem Wind, und das hier gehört halt einfach wieder zum schicksalshaften Drehbuch dieser Nacht.

Im aufkommenden Licht der Morgendämmerung konnten wir aber sehen, dass sein Gennacker begann, unmotiviert herunterzuhängen und er regungslos eng vor der Nase kleben blieb, während sich links weit vor uns ein Tablett silbern gekräuselten Wassers ausbreitete, das unseren Beschwörungen folgte, sich zu uns ausdehnte und in sich auffing. Unfassbar und irr vor Begeisterung folgten wir der unwiderstehlichen Einladung und schauten fassungslos auf seinen Gennacker, der immer noch schlapp herunterhing. Und tatsächlich zogen wir in einem Strich an ihm vorbei mitten durch die Nasen und fühlten uns wie der Etappensieger an der Tour de France, der gnadenlos am letzten Ausreisser vorbeifliegt. Nur interessierte das längst kein Mensch mehr, denn zu dieser Zeit holten sich alle andern Segler bereits den Schlaf nach, der ihnen die Stunden vorher entzogen wurde. Ausser die zwei unbeugsamen Ehrenmänner und ihre tapferen Crews, die sich nun definitiv nichts mehr schenken und ihr Duell zu Ende tragen wollten an diesem klaren Morgen. Es ging um nichts mehr und nichts weniger als darum, diesem nächtlichen Ausflug einen gottverdammten Sinn zu geben, oder aber mit dem Gefühl nach Hause gehen zu müssen, dass es dies definitiv das letzte mal war, an einem solchen Anlass teilzunehmen, was machen wir hier überhaupt, wie konnte man nur so bescheuert sein, und irgendwann sollte man doch endlich erwachsen genug sein, dem Reiz solcher Spielchen widerstehen zu können, nein, njet, nada, nie mehr, nicht mit mir. Natürlich ergriff die silberne Fläche nun auch ihn, und da kam er angebraust, mit seinem frisch aufgeplustertem Geni, kräftig, stolz, fast arrogant. Ein Angriff folgte dem andern, die poco loco wankte, wir kamen uns so nahe, dass wir die Motivationsrufe auf dem andern Deck vernahmen, die zu unserer Erleichterung jeweils einem tief frustrierten Fluchen wichen, wenn wir wieder einer ihrer Angriffe abgewehrt haben. So ging es hin und her wie bei der Handorgel, und es gelang uns immer wieder, eine fiktive Wand zwischen uns zu stellen, die sie einfach nicht knacken konnten, bis wir uns schliesslich mit einer Bö definitiv absetzen konnten.

Und das war es dann, das Ende dieses epischen matchrace über die ganze lange romantische Nacht mit den vielen Sternschnuppen und dem Vollmondschein, an diesem klaren Morgen des 14. August.